Das heutige Requirements Engineering findet nicht mehr nur in der persönlichen Kommunikation vor Ort statt, sondern immer häufiger durch Nutzung von digitalen Medien. Dies ist besonders wichtig für Unternehmen, bei denen Teams, ob durch äußere Einflüsse oder durch die Unternehmensstruktur, standortübergreifend zusammenarbeiten. Unsere Projekte haben gezeigt, dass sich die Herausforderungen beim heutigen Requirements Engineering mit Erkenntnissen aus internationalen Projekten angehen lassen. Internationale Projekte müssen sich von Haus aus mit unterschiedlichsten Gegebenheiten, wie z.B. einer geografischen Distanz, befassen. Auch wenn der Transfer nicht direkt ersichtlich ist, lassen sich die Erkenntnisse dennoch gut auf das Requirements Engineering übertragen.
Dazu haben wir diesen Blogbeitrag in vier Bereiche unterteilt:
Zusammenarbeit
Zeitliche Aspekte
Technische Infrastruktur*
Kulturelle Unterschiede*
(* Thema im 2. Teil Requirements Engineering in verteilten Teams)
Zusammenarbeit
Die digitale Zusammenarbeit stellt den Anforderungsvermittler vor neue Herausforderungen. Durch die Distanz und die dadurch oft isolierte Arbeitssituation wird der Zugang zu den Stakeholdern erschwert. Denn in der Regel arbeitet der Anforderungsvermittler beim Stakeholder vor Ort und hat so einen kurzen Draht zu seinen Ansprechpartnern. In der digitalen Zusammenarbeit braucht es eine Anforderungsanalyse, die auch über eine digitale Kommunikation funktioniert. Es empfiehlt sich somit umso mehr, sich zu Beginn des Projekts, mit einzelnen Schlüsselstakeholdern gemeinsam auf das Projekt auszurichten und die Art der Zusammenarbeit festzulegen.
Definition Stakeholder: Eine Person oder Organisation, die die Anforderungen eines Systems beeinflusst oder von diesem System betroffen ist.
IREB® – International Requirements Engineering Board
Praxistipp 1: Zu Beginn des Projekts sollte die Art der Zusammenarbeit diskutiert und festgelegt werden. Für zielführende Gespräche empfiehlt sich ein möglichst kleiner Kreis von wichtigen Stakeholdern.
Die mangelnde physische Präsenz der Stakeholder bzw. des Anforderungsvermittlers führt auch dazu, dass mitunter nicht direkt ersichtlich ist, wie die Anforderungsanalyse voranschreitet. Zwar ist die sichtbare Anwesenheit in einem Büro nicht automatisch mit produktivem Arbeiten gleichzusetzen. Dennoch wird sie naturgemäß höher eingeschätzt als der verfügbar-Status eines Messengerdienstes. Schnell mag das Gefühl aufkommen, dass der Anforderungsvermittler sich mit anderen Dingen als seiner Arbeit beschäftigt – so auch ein Artikel der Wirtschaftswoche zum Thema Arbeiten im Home Office. Dass diese Denkweise auf Dauer für sich selbst und vor allem für die konstruktive Zusammenarbeit nicht gesund ist, ist offensichtlich. Eine strikte Kontrolle mag auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen, dennoch führt eine zu hohe Kontrolle stattdessen dazu, dass Energie und Zeit in Gedanken und Dinge gelenkt werden, die das Projekt bzw. das Arbeitsergebnis eher behindern als fördern. Der Anforderungsvermittler muss also proaktiv die Arbeitsergebnisse aus der Zusammenarbeit mit den Stakeholdern transparent machen und kommunizieren. Auf der anderen Seite kann das Distanz-Arbeiten auch positive Effekte haben. Das Arbeiten kann den Stakeholdern auch leichter fallen, da sie durch die räumliche Distanz entspannter und dadurch produktiver sind. Wichtig ist, im Vorhinein mit allen Beteiligten abzustimmen, welche Aktivitäten in welcher Qualität bzw. in welchem Umfang erledigt werden sollen. So fällt der Fokus auf das Arbeitsergebnis schlussendlich einfacher.
Praxistipp 2: Die Abstimmung, Visualisierung und Kommunikation der Arbeitsergebnisse zeigt den Stakeholdern die Fortschritte und den Wert der Anforderungsanalyse.
Ein letzter Aspekt der Zusammenarbeit ist das soziale Teamgefühl. Wenn alle Stakeholder an einem Standort arbeiten, geht man oft mittags zusammen essen, unterhält sich in der Kaffeeküche oder trifft sich vielleicht auch nach der Arbeitszeit zu einer gemeinsamen Aktivität. Bei der Zusammenarbeit über verschiedene Standorte geht diese soziale Komponente schnell verloren oder ist gar nicht erst vorhanden.
Praxistipp 3: Auch in der digitalen Welt kann ein inoffizielles Gespräch während oder außerhalb der Arbeitszeiten die Zusammenarbeit mit Stakeholdern verbessern.
Zeitliche Aspekte
Beim Requirements Engineering mit verteilten Stakeholdern bestehen besondere Herausforderungen in Bezug auf die Planung der Anforderungsanalyse. Bei stark verteilten, unter Umständen internationalen Stakeholdergruppen, aber auch schon bei Stakeholdern, die national an verschiedenen Standorten arbeiten, ist eine Zusammenarbeit nur digital wirklich effizient und effektiv – so lautet zumindest die Erkenntnis von Microsoft zu der Arbeitsweise verschiedener Unternehmen. Hierbei besteht jedoch die Gefahr, dass sich Kommunikationssilos bilden. Das bedeutet, dass sich der Austausch zwischen Stakeholdergruppen an unterschiedlichen Standorten verringert. Ein monatlicher oder sogar wöchentlicher Regeltermin kann hierbei helfen, eine feste Möglichkeit zum Austausch zu bieten, besonders bei Stakeholdern mit einem großen Interesse und Einfluss auf das Produkt. Hierbei ist darauf zu achten, dass diese Regeltermine eine klare Struktur vorweisen und ein klar definiertes Ziel verfolgen. Smalltalk ist zwar hilfreich, um einen Termin zu eröffnen und die Teilnehmer abzuholen, dennoch muss letztendlich ein Mehrwert generiert werden. Auch sollte der zeitliche Rahmen dieser Termine klar sein und von möglichst allen relevanten Stakeholdern zum Austausch genutzt werden.
Praxistipp 4: Eine verbindliche Absprache von Regelterminen zum Austausch mit einer klaren Agenda und jeweiligen Zielstellung sind essentiell bei der Planung einer Kommunikation über unterschiedliche Standorte hinweg.
Abgesehen von der Planung von Regelterminen ist auch die Abstimmung von einmaligen Terminen schwieriger, wenn die Stakeholder an unterschiedlichen Standorten arbeiten. Wenn beispielsweise Einzelne im Home-Office arbeiten, ist dies schwieriger zu koordinieren, je größer die Stakeholdergruppe ist. Bei der Planung von Terminen, insbesondere bei spontanen Terminen, ergibt sich oft eine Herausforderung für den Organisator, einen gemeinsamen Termin zu finden. Softwaretools zur Verwaltung eines Kalenders bieten die Möglichkeit, entweder den eigenen Kalender zur Einsicht freizugeben oder auch bei der Planung von Terminen die zeitlichen Verfügbarkeiten der entsprechenden Stakeholder anzuzeigen. So kann der Organisator eines Termins auf einen Blick schnell und unkompliziert die zeitliche Verfügbarkeit jedes einzuladenden Stakeholders sehen und bei der Planung des Termins berücksichtigen.
Praxistipp 5: Die Transparenz der zeitlichen Verfügbarkeit jedes einzelnen Stakeholders ist ausschlaggebend für den Erfolg der Anforderungsanalyse.
Ein weiterer Aspekt in Bezug auf die zeitliche Verfügbarkeit sind ggfs. unterschiedliche Zeitzonen, in denen die Stakeholder leben und dementsprechend arbeiten. Der Zeitunterschied zwischen Berlin und London ist gering, doch zwischen Berlin und New York oder gar Sydney ist der Zeitunterschied signifikant. So wird es für einen in Deutschland agierenden Anforderungsvermittler nahezu unmöglich sein, nach deutscher Zeit vormittags mit Stakeholdern in New York und nachmittags mit Stakeholdern in Sydney zu sprechen. Die zeitliche Verfügbarkeit ist dementsprechend zusätzlich eingeschränkt und somit die Planung von Terminen erschwert. Bei dieser Herausforderung kann ebenfalls die softwaregestützte Darstellung zeitlicher Verfügbarkeit Abhilfe schaffen. Denn das Tool hilft auch in diesem Fall, geplante Abwesenheiten oder Nichtverfügbarkeiten anzuzeigen und zu verhindern, dass bspw. ein in Deutschland agierendes Teammitglied um 1 Uhr morgens zu einem Termin eingeladen wird.
Praxistipp 6: Die zeitliche Verfügbarkeit der Stakeholder hängt auch von den unterschiedlichen Zeitzonen ab.
Der Werkzeugkoffer der Anforderungsfabrik bietet mit der Aktivität des Einbindens zahlreiche Möglichkeiten, um auch ein Stakeholdermanagement mit verteilten Stakeholdern erfolgreich zu gestalten.
Nachdem wir hier im ersten Teil des Blog-Artikels “Erkenntnisse aus dem Requirements Engineering im Umgang mit verteilten Teams” und “zeitliche Aspekte” eingegangen sind, gehen wir im zweiten Teil des Blog-Artikels auf die Bereiche “technische Infrastruktur” und “kulturelle Unterschiede” eingehen.