Der systemische Ansatz hat sich in den letzten Jahrzehnten sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis zu einem beliebten Werkzeug zur Lösung komplexer Probleme entwickelt. Sein Fokus auf Interaktionen und Beziehungen innerhalb eines Systems ermöglicht es, das Verhalten und die Dynamik eines Systems als Ganzes zu analysieren und nachhaltige Lösungen zu entwickeln. Doch wie universell ist dieser Ansatz tatsächlich, und welchen Einfluss hat er auf agile Methoden, die in modernen Organisationen eine immer größere Rolle spielen?
Was ist der systemische Ansatz?
Der systemische Ansatz ist eine Methodik und Denkweise, die darauf abzielt, Systeme und ihre Dynamiken ganzheitlich zu verstehen. Ein System wird hierbei als ein Geflecht von miteinander verbundenen Elementen betrachtet, die durch Interaktionen und Beziehungen miteinander verknüpft sind. Diese Elemente können Menschen, Prozesse, Strukturen oder auch Organisationen sein.
Im Zentrum des systemischen Ansatzes steht die Überzeugung, dass das Verhalten eines Systems nicht allein durch die Summe seiner Teile erklärt werden kann. Vielmehr geht es darum, die Wechselwirkungen zwischen den Elementen und die daraus entstehenden Muster und Dynamiken zu analysieren. Ziel ist es, das „große Ganze“ zu verstehen, anstatt sich nur auf isolierte Einzelaspekte zu konzentrieren.
Stärken und Grenzen
Vertreter:innen des systemischen Ansatzes betonen dessen Vielseitigkeit und Tiefe. Indem er verschiedene Perspektiven integriert und Wechselwirkungen zwischen den Systemkomponenten berücksichtigt, ermöglicht er es, komplexe Probleme ganzheitlich zu betrachten. Besonders in Organisationen kann der Ansatz dabei helfen, blinde Flecken aufzudecken, verborgene Dynamiken zu erkennen und umfassendere Lösungen zu entwickeln. Seine Betonung von Zusammenhängen und Beziehungsgeflechten passt gut zu den Herausforderungen unserer Zeit, in denen einfache Antworten oft nicht ausreichen.
Nicht jedes Problem erfordert jedoch eine systemische Herangehensweise, und in manchen Fällen kann eine zu tiefgehende Analyse sogar hinderlich sein. Effizienz und Praktikabilität können leiden, wenn die Analyse des Gesamtsystems zu viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nimmt. Zudem besteht beim systemischen Ansatz die Tendenz, den individuellen Menschen aus den Augen zu verlieren. Mit seinem Fokus auf das System und dessen Dynamiken läuft der systemische Ansatz Gefahr, dass die individuellen Bedürfnisse, Emotionen und Perspektiven der beteiligten Personen zu kurz kommen. Dies kann zu Lösungen führen, die zwar logisch und systemisch stimmig sind, aber nicht den Erwartungen und Bedürfnissen der Menschen entsprechen.
Nadja Weide zu Gast im summit-Podcast
Agilität trifft Systemtheorie: Chancen und Grenzen
Nadja, Autorin des Beitrags und Speakerin auf der Manage Agile 2024 zum selbigen Thema war zu Gast im summit-Podcast und erzählt über die Anwendung der Systemtheorie in der agilen Arbeitswelt.
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Systemischer Ansatz und agile Methoden: Ein Spannungsfeld?
Ein besonders spannender Anwendungsfall ist die Team-, Führungskräfte- und Organisationsentwicklung in der agilen Welt. Agile Methoden wie Scrum, Kanban oder SAFe sind bekannt für ihre Betonung von Flexibilität, Zusammenarbeit und kontinuierlicher Verbesserung. Sie fördern schnelle Anpassungsfähigkeit, iterative Prozesse und eine starke Fokussierung auf das Team.
Der systemische Ansatz kann dabei als Ergänzung agiler Praktiken dienen, da er eine tiefere Analyse von Strukturen, Prozessen und Beziehungen ermöglicht. Doch hier entsteht ein potenzieller Konflikt: Während agile Methoden auf Dynamik, schnelle Entscheidungen und iterative Prozesse setzen, legt der systemische Ansatz Wert auf Stabilität und das Verständnis langfristiger Dynamiken. Die Herausforderung besteht darin, beide Ansätze so zu integrieren, dass sie sich gegenseitig stärken und nicht behindern.

Balance zwischen systemischem Ansatz und Agilität
Die Integration von systemischem Denken in agile Methoden erfordert eine bewusste Balance, die sowohl die Stärken als auch die Grenzen beider Ansätze berücksichtigt. Dies kann durch eine partielle Nutzung des systemischen Ansatzes erfolgen, der gezielt auf bestimmte Bereiche oder kritische Wechselwirkungen angewendet wird. So lässt sich die nötige Struktur und Stabilität schaffen, ohne das Reaktionsvermögen des agilen Arbeitens zu beeinträchtigen.
Ein Konzept dafür ist das sogenannte „bounded system thinking“, bei dem systemisches Denken auf spezifische Projektphasen oder Themenbereiche beschränkt wird. Beispielsweise kann es in der Strategieentwicklung zum Einsatz kommen, während operative und agile Prozesse weiterhin flexibel und iterativ gestaltet werden.
Die Stärken der Kombination
Komplementarität der Ansätze: Systemisches Denken hilft, komplexe Wechselwirkungen und langfristige Muster zu verstehen, während agile Methoden schnelle Anpassung und kontinuierliche Verbesserung ermöglichen. Gemeinsam können sie nachhaltigere und effektivere Lösungen bieten.
Stärkung agiler Teams: Durch das Verständnis von Systemdynamiken können Teams ihre Zusammenarbeit verbessern, strukturelle Probleme erkennen und langfristige Herausforderungen besser angehen.
Nachhaltige Organisationskultur: Systemische Reflexionen, wie abteilungsübergreifende Zusammenarbeit, können helfen, eine gesunde und nachhaltige Kultur zu fördern, ohne die Flexibilität agiler Praktiken zu verlieren.

Praktische Ansätze zur Integration
Systemisches Denken schrittweise einführen
Mit kleineren Interventionen beginnen, wie etwa regelmäßigen Meetings oder Retrospektiven, bei denen die Systemdynamik der Beteiligten reflektiert wird.Fokus auf menschliche Aspekte beibehalten
Agile Coaches und Führungskräfte sollten darauf achten, dass individuelle Bedürfnisse, Emotionen und persönliche Entwicklung nicht vernachlässigt werden.Bewusste Wahl der Methode
Je nach Kontext und Projektphase sollte entschieden werden, ob systemische oder agile Methoden den größten Mehrwert bieten.Einführung eines Systemischen Agile Coaches
Diese Rolle kann helfen, das systemische Verständnis aller Beteiligten zu fördern und gleichzeitig die Prinzipien der Agilität zu wahren.Retrospektive mit systemischem Fokus
In regelmäßigen Reflexionen können Teams langfristige Muster analysieren und strukturelle Probleme erkennen, ohne kurzfristige Herausforderungen aus den Augen zu verlieren.
Der systemische Ansatz in der Praxis: Zielkonflikte bei Führungskräften und neue Rollenbilder
Ein oft herausfordernder Bereich, in dem der systemische Ansatz und agile Methoden aufeinandertreffen, ist die Neuausrichtung von Führungsrollen. Gerade in modernen Organisationen, die sich zunehmend an agilen Prinzipien orientieren, entstehen Zielkonflikte für Führungskräfte wie Sachgebiets- oder Teamleiter:innen. Diese Konflikte betreffen insbesondere die Diskrepanz zwischen disziplinarischer Verantwortung und selbstorganisierten Teams.
Ein Beispiel zeigt, wie der systemische Ansatz dabei helfen kann, diese Rollen neu zu denken.
In einem Transformationsprozess werden die vorhandenen Teams auf agile Arbeitsweisen umgestellt, was Selbstorganisation, Interdisziplinarität und Fokus auf das zugehörige Produkt beinhaltet. Dabei sollen die klassischen Sachgebietsteams und zugehörigen Rollen der Teamleiter:innen aufgelöst werden. Für die Teamleiter:innen entsteht dadurch ein Dilemma:
Einerseits haben die Führungskräfte bislang die disziplinarische Verantwortung für ihre Teams getragen und waren zuständig für Personalentwicklung, Zielvereinbarungen und die Beurteilung der Teammitglieder,
andererseits sieht die neue agile Struktur keine Führungskräfte innerhalb der selbstorganisierten interdisziplinären Teams vor. Dies führt zu Unsicherheiten über die künftige Position und den leistbaren Wertbeitrag.
Die systemische Neuausrichtung der Führungsrolle
Mit Hilfe einer Analyse der Systemdynamik kann nun die Erwartung an die Teamleitung hinterfragt und systemisch reflektiert werden. Sodass daraus resultierend eine passende Neuausrichtung der Rolle entwickelt werden kann, die den Fokus auf den Erfahrungsschatz der Führungskräfte legt.
Die neue Rolle verlagert sich von einer disziplinarischen Führung hin zu einer Tätigkeit als Mentor, fachlicher Berater und methodischer Coach. Die Kernaufgaben sollten hier die individuellen Kompetenzen widerspiegeln wie Unterstützung der jeweiligen Teammitglieder bei ihrer persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung und dem Fungieren als Sparringspartner bei Karrierefragen oder fachlichen Herausforderungen.
Zudem können die neuausgerichteten Rollen bei komplexen technischen oder strategischen Fragestellungen als Experte hinzugezogen werden, ohne jedoch Entscheidungen eigenständig zu treffen. Auch können die Teams bei der Verbesserung ihrer Arbeitsweise, zum Beispiel durch Workshops zu agilen Methoden oder durch gezielte Interventionen bei Konflikten oder Ineffizienzen begleitet werden.
Die systemische Neuausrichtung der Führungsrolle bringt demzufolge mehrere Vorteile:
die Wertschätzung des Erfahrungsschatzes der ehemaligen Führungskräfte,
die Förderung der Selbstorganisation durch den Entfall der disziplinarischen Verantwortung hin zu eigenständiger Arbeit im Team und
die nachhaltige Entwicklung der individuellen Fähigkeiten aller Beteiligten.
Dieses Beispiel zeigt, wie der systemische Ansatz helfen kann, Zielkonflikte bei Führungskräften zu lösen und neue Rollenbilder zu schaffen. Durch eine klare Fokussierung auf Interaktionen, Beziehungen und die langfristige Dynamik des Systems lassen sich Rollen so gestalten, dass sie den Anforderungen moderner, agiler Organisationen gerecht werden, ohne dabei die menschliche Komponente zu vernachlässigen. Diese Art der Integration fördert nicht nur die Flexibilität und Innovationskraft, sondern auch die Zufriedenheit und Entwicklung aller Beteiligten.
Potenziale und Grenzen realistisch einschätzen
Der systemische Ansatz ist kein universelles Patentrezept und sollte in Kombination mit anderen Methoden bewusst und zielgerichtet eingesetzt werden. Sein Wert liegt darin, ergänzende Perspektiven zu bieten, die in Kombination mit anderen Methoden, wie der Agilität, effektive und nachhaltige Lösungen ermöglichen. Dieses Zusammenspiel zwischen Systemdenken und Agilität ist ein herausfordernder Prozess, der die Grundlage für zukunftsfähige Strukturen bietet.
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